Wir sind Strukturwandel

Mein Oppa und mein Onkel väterlicherseits sind noch »eingefahren«, und zwar auf Zeche Constantin in Bochum Riemke/Hofstede, und deshalb bin ich als Kind reichlich versorgt worden mit den ganzen Heldengeschichten über die Bergleute. Wie die arbeiten konnten! Wie die nach der Arbeit saufen und singen konnten! Und wie die essen konnten!

Meine Omma väterlicherseits hat mir erzählt, wie das war, wenn sie Reibeplätzchen gemacht hat. Mein Vater, der Jüngste, der eben nicht auf dem Pütt war, schaffte von diesen armdicken, in einem halben Liter siedendem Fett in einer schweren gusseisernen Pfanne vor sich hinschwimmenden Dingern gerade mal zwölf, dreizehn Stück. Aber Oppa und Onkel, die hart arbeitenden Bergleute, hauten regelmäßig dreißig bis vierzig weg! Jeder!

Gewohnt haben die damals in einer langen Reihe von Häusern in der Bochumer Poststraße, im sogenannten »D-Zug«, und hier waren bis weit in meinen Erinnerungsbereich hinein die Toiletten auf halber Treppe, hatten schwarze Brillen und Deckel, und daneben hing eine Kette, an der nicht immer auch ein Griff zum Ziehen befestigt war. Im Winter war dieser Ort natürlich komplett unbeheizt, das heißt, alles, was man da tat, war ein Wettlauf mit dem Frost, schließlich war damals der Winter noch richtig kalt, genauso wie der Sommer noch richtig warm war, die Butter noch »gut« und das Geld noch was wert. Man musste also abwerfen, bevor der Arsch buchstäblich an der Brille festfror.

Nach der Schicht gingen die Bergleute gern nach gegenüber ins »Haus Walburg«, um sich ein paar Pils einzudrehen, und wenn diese dann nachts wieder auf Ausgang drängten, hatten die Männer nur wenig Lust, das warme Bett zu verlassen, um das eiskalte Klo aufzusuchen. Deshalb gab es, so will es die Überlieferung, in vielen Bergarbeiterhaushalten die segensreiche Erfindung des Gurkenglases. In diesem wurde über Nacht gesammelt, was dann am nächsten Morgen auf dem Weg zur Schicht endgültig zu entsorgen war.

Im Hinterzimmer von »Haus Walburg« probte Oppa Goosen mit seinem Männergesangsverein: Steigerlied, Am Brunnen vor dem Tore - die ganze Palette!

Meine Omma mütterlicherseits frönte übrigens damals einem in unserer Gegend sehr beliebten Hobby, dem »Im-Fenster-Liegen«. Während die Männer unten im Hof saßen und an einem Holztisch im Unterhemd Karten spielten, lagen die Frauen in geblümten Haushaltskitteln und mit einem grob gemusterten Kissen unter den Ellenbogen in den offenen Fenstern und unterhielten sich quer über die ganze Fassade. Sicher, man hätte einander auch besuchen können, aber das wäre nur der halbe Spaß gewesen, schließlich war man beim »Im-Fenster-Liegen« wenigstens zur Hälfte an der frischen Luft.

Doch das sind für mich letztlich nur Nachklänge aus der Vergangenheit. Ich war in unserer Familie der Erste, der aufs Gymnasium gegangen ist, was einem in der Gegend, wo ich herkomme, der Alleestraße in Bochum, nicht nur zur Ehre gereichte. Plötzlich hieß es beim Fußball nicht mehr: »Ey, Matschbirne, wie wär's mal mit ein bisschen Abwehrarbeit!«, sondern: »Ey, Gymnasium, bisse dir getz zu fein für'n scheiß Einwurf?«

Mit elf Jahren schrieb ich dann mein erstes Gedicht. Meine Omma hatte Tränen in den Augen und flüsterte: »Was haben wir nur falsch gemacht!« Und Oppa, sehr viel lauter: »Unter Adolf war dat nich passiert!« Gleichsam aus Rücksicht auf meine Herkunft habe ich Abitur dann auch nur mit einem Notendurchschnitt von drei Komma eins gemacht.

Ich habe weder gedient noch Zivildienst machen müssen, sondern einfach schon 1986 die weltpolitischen Umwälzungen vorhergesehen: »Das mit der Mauer, das hält nicht mehr lange, ich fange erst mal an zu studieren.« Und tatsächlich hatten sie ein paar Jahre später so viele potenzielle Rekruten, dass sie auf mich gerne verzichteten.

Also begab ich mich eines Morgens zu unserer Strukturwandel-Uni im Bochumer Süden. Noch in der Schlange zur Einschreibung im Foyer des Audimax wusste ich gar nicht so genau, was ich studieren sollte. Geschichte und Deutsch waren mir in der Schule immer leichtgefallen, warum sollte das an der Uni anders sein.

Nach zwei Stunden Wartezeit stand ich endlich vor dem zuständigen Mitarbeiter der Universitätsverwaltung.

»Was wollen Sie studieren?«

»Geschichte und Deutsch.«

»Welcher Abschluss?«

»Och, ne Zwei war okay.«

Ich wunderte mich noch, dass man sich das vorher aussuchen konnte, fand aber, dass einem so das Leben doch enorm erleichtert wurde.

»Lehramt oder Magister«, sagte der Mann und grinste fast ein bisschen.

»Ach Gott, ich kenne den Unterschied nicht, aber Lehrer will ich auf keinen Fall werden, also sofort vom Insassen zum Wärter umschulen ... Also Magister.«

»Dann brauchen Sie noch ein drittes Fach.«

»Ein drittes Fach? Das ist ja fast wie Schule! Ich dachte, ich lass mal langsam gehen und studiere vor allem Geschlechtsverkehr, Radaumusik mit Stromgitarren und legale Drogen.«

»Ja, schon«, antwortete der freundliche Mann, »aber pro forma müssen Sie drei Fächer belegen.«

Gut, dachte ich, was kann noch leichter sein als Geschichte und Deutsch (das im Magisterstudiengang viel professioneller »Germanistik« hieß)? Genau: Politik. Und tatsächlich, Geschichte, Germanistik und Politik auf Magister konnte man an der Ruhr-Universität Bochum zwischen 1986 und 1992 weitestgehend auf einer Backe absitzen.

Finanziert wurde mir mein Studium übrigens von einem Mitarbeiter des BAföG-Amtes. Aus seiner eigenen Tasche. Seine Kinder hatten zu Hause nur Postsäcke anzuziehen und ernährten sich von Wasser und Brot, damit ich meinem Lotterleben an der Uni nachgehen konnte. Jedenfalls hat er sehr glaubhaft diesen Eindruck vermittelt.

Nach insgesamt zwölf Semestern (inklusive Magisterarbeit und Prüfungen sowie einem selbst verordneten Freisemester zum Abschluss meines ersten Romanversuchs) machte ich dann tatsächlich Examen. Um nicht als Prahlhans dazustehen, möchte ich die Note hier lieber verschweigen. Meine Omma hatte wieder Tränen in den Augen und sagte, zumindest sinngemäß: »Wenn das dein Oppa noch erleben könnte! Er würde dich grün und blau prügeln!«

Kurz daraufbin ich dann zum ersten Mal in einer jener Einrichtungen aufgetreten, in denen unsere Ahnen ihr Leben in der Arbeit gelassen hatten, und da war dann auch mir klar: Wir sind Strukturwandel.

 

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